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Future Migration: Netzwerk für kulturelle Diversität

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Nach einem Jahrzehnt der Forschung über „Zeit“ schlägt die Anthropologin Barbara Adam vor, Zukunft als Fakt, Fiktion, Glück und Schicksal zu lesen (Adam 2007). Diese Konnotationen haben sicher das Potenzial, dem alltäglichen Sprechen über Zukunft nahe zu kommen und beschreiben damit die Ebene von Zukunft als Kategorie der Praxis. Kategorien der Praxis sind, so Rogers Brubaker (2012), im täglichen Sprechen verankert und als solche politisch, religiös, soziokulturell diskursiv kodiert. Jedoch können diese diskursive Strukturen solcher Kategorien nicht aufgebrochen und dekonstruiert werden ohne den Bereich der Praxis zu verlassen und in die Metaebene zu gehen bzw., wie Brubaker es nennt, mit der analogen Analysekategorie zu arbeiten. Wie über Zukunft im täglichen Leben gesprochen wird, wird dabei ergänzt um die Frage, wie dieser alltägliche Sprachgebrauch aussagekräftig analysiert und verstanden werden kann.

            In dieser Lesart geht Zukunft über ihre praktische Domäne hinaus und überwindet es, Fakt, Glück und Schicksal zu sein. Damit ist auch gemeint, dass Zukunft mehr ist als das, „was geschehen wird“. Natürlich kann sie sich in einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Raum ereignen, jedoch nicht primär entlang der Pfade von Schicksal oder Glück (welches im Kern sehr viel mehr mit Privilegien und Macht zusammenhängt als mit Zufall). Zukunft entscheidet sich auch über agencies, also Handlungsmacht, und deren Verhandlungen mit dem, was sich ereignen kann und wird. Deshalb öffnet sich Zukunft als Raum, der sich ständig neu erschafft – und zwar als fortwährender Aushandlungsprozess sich widerstreitender, ergänzender oder sich ausschließender Interessen, Eventualitäten, Möglichkeiten und Optionen. Im Laufe globaler Geschichten haben sich manche Zukünfte wechselseitig gestärkt, geschwächt, und manche haben andere daran gehindert, zu existieren. Die eine bringt die andere voran oder behindert sie. Es gibt Zukünfte die nie geschehen konnten, oder nie geschehen werden, weil andere Zukünfte, entweder als Nebenwirkung oder intendiert, sie verhinderten. Zukunft ist ebenso das, was passieren wird, was passieren kann oder schon passiert ist wie das, was hätte passieren können oder passieren könnte. Somit existiert Zukunft niemals in der Einfachheit des Singulars, sondern reflexiv und relational in Verschränkung von Fakt und Fiktion sowie Vergangenheit und Gegenwart einschließlich ihrer verlorenen und beschwiegenen Zukünfte. Zukunft als Kritische Analysekategorie eröffnet damit eine neue Perspektive auf Zukunft als Zukünfte – ein Plural, der anerkennt, dass alle Zukünfte bedeutend sind.

            Die Reflexivität, Relationalität und Multiplizität von Zukünften sind kodiert durch Macht und deren Strukturen und Diskursen entlang von Strukturkategorien wie etwa Geschlecht, Sexualität, Rasse, Religion, Gesundheit, Alter und Nation. Die sich daraus ableitenden sozialen Positionen bestimmen in hohem Maße, wie selbstbestimmt individuelle oder kollektive Zukünfte gestaltet werden können. Damit ist jeder Kampf um Macht ein Kampf um Zukunft und jeder Kampf um Zukunft strebt nach Zugang zu Macht.

            Letztlich aber wird der Kampf um Zukunft nicht allein durch bestehende Machtverhältnisse allein definiert. So wie Macht durch agencies erhalten oder geschwächt wird, werden auch Zukünfte durch agencies bestimmt. Agencies begehren und fürchten, bekämpfen und erhalten, erfahren und vergessen, erbauen und zerstören Zukünfte – und zwar im Kontext von (Ohn)Macht, Privilegien und das Fehlen dieser, Ethik und Skrupellosigkeit, Verantwortung(slosigkeit). Ja, agency ist zugleich der einflussreichste Protagonist und heftigste Antagonist der Zukunft.

            Die agencies von Zukünften können sich divers manifestieren und Narration ist eine der einflussreichtsen Formen, um agency auszudrücken, auszuüben oder umzusetzen. Wir waren und sind was wir wie erzählen und was wir wie erzählen gestaltet Zukünfte.

            Was aktuelle Debatten über Migration in Deutschland anbelangt, so geht es auch hier um vergangene, gegenwärtige und künftige Zukünfte und deren Vergangenheiten und damit um die Frage, welche (deutschen und deren gloable) Zukünfte wann und durch wen verhindert oder bevorzugt, verschwiegen oder erzählt, gerecht oder ungerecht geteilt wurden. Der deutsche Kolonialismus und seine Genozide tragen Mitverantwortung an dem Tod von Millionen von Menschen in Afrika, Asien und den Amerikas und der Zerstörung von dortigen gesellschaftlichen Strukturen sowie den entsprechenden Zukünften. Gleichzeitig haben koloniale Aneignungen fremder Ressourcen, Güter und Arbeit die industrielle Revolution angekurbelt und eine Zukunft gebaut, die oft auf die vereinfachende Formel gebracht wird, dass der „entwickelte Westen“ dem „unterentwickelten und auf Hilfe angewiesenen globalen Süden“ überlegen sei.  Die Shoah wiederum riss Millionen von jüdischen Menschen und deren Zukünfte in den Tod. Viele der heutigen Konflikte und Kriege in der MENA-Region tragen auch diese Handschrift. Eine der vielen aus dem Nationalsozialismus gelernten Lektionen schließt die Verpflichtung ein, geflüchtete Menschen in Deutschland aufzunehmen. Dieses Erbe garantiert Überleben für Menschen, die vor Krieg, Genozid, und Verfolgung fliehen müssen, und sendet eine Willkommensbotschaft aus, die das Angebot einschließen muss, Privilegien, ökonomische Sicherheit sowie Hoffnungen auf gerechter verteilte Zukünfte zu teilen. Dafür aber bedarf es Visionen von Deutschland und Europa, die erzählen, dass Migration schon immer ein Teil von Europa gewesen ist und Migration ein Gewinn und keine Gefahr ist. Das schließt explizit auch ein, das Gewähren von Bleiberecht nicht einfach nur als Gabe, sondern als Verantwortungsübernahme für die globalen Folgen von Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie den globalen Kapitalismus zu verstehen, der westliche Lebensqualitäten auf Kosten von Millionen von People of Colour in Asien, Afrika und den Amerikas sichert. Diese neue Erzählung von Zukünften in Deutschland, Europa und darüber hinaus sind die Zukünfte, derer unseren verschrämkten Welten dringend bedürfen.

Autorin: Susan Arndt

Adam, Barbara & Chris Groves. Future Matters: Action, Knowledge, Ethics. Leiden: Brill, 2007.

Arndt, Susan, Deborah Nyangulu & Peggy Piesche. FutureS. Merits of a Critical Category of Analysis. Bielefeld: transcript, i.V.

Brubaker, Rogers. „Categories of Analysis and categories of practice: a note on the study of Muslims in European countries of immigration”, in: Ethnic and Racial Studies 2012: 1-8.

Ette, Ottmar. TransArea. Berlin: de Gruyter 2012

Gibson, William. „ The Science in Science Fiction", in : Talk of the Nation, NPR (30 November 1999).

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