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Future Migration: Netzwerk für kulturelle Diversität

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Glossary

​KriseEinklappen

Wenn wir uns mit den Ursachen, dem Wesen und möglichen Lösungen von ‚Krisen‘ wie z.B. der ‚Flüchtlingskrise‘ beschäftigen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass allein schon die Entscheidung, Situationen als Krisen begreifen, einen Akt der Sinnstiftung darstellt. In der Antike bezeichnete der Begriff κρίσις Entscheidungsprozesse vor Gericht und in der Politik, in der Medizin auch den Befund an sich und das Urteil des Arztes über die Entwicklung einer Krankheit, das zu einem bestimmten Zeitpunkt „zur Entscheidung treibt, ob der Kranke überlebt oder stirbt“ (Koselleck 1997, 619). Hierbei wurde unterschieden zwischen einer ‚perfekten‘ und einer ‚imperfekten Krise‘: Erstere führte zur vollständigen Genesung, bei letzterer bestand die Gefahr eines Rückfalls. Der ‚kritische‘ Punkt betraf dabei zwei Aspekte: einerseits den objektiven Gesundheitszustand des Patienten und andererseits die Entscheidung des Arztes für eine bestimmte Behandlung (ebd.). Wir verwenden den Begriff heute nicht viel anders: Wir nehmen bestimmte greifbare Probleme als krisenhaft wahr, aber diese Wahrnehmung wird begleitet von diskursiven Prozessen, die die Probleme überhaupt erst zur ‚Krise‘ machen und dabei bestimmte (Be-)Handlungsmuster zu ihrer Lösung aufrufen. In diesem Sinn wird der Begriff ‚Krise‘ als „Selbstdiagnose und Mittel der Selbstreflexion“ verwendet (Meyer et al. 2013, 12) und transportiert eine – rasch ausgeblendete – metaphorische Konnotation von der Gemeinschaft als Körper: Wie der Patient, so ist auch das Gemeinwesen ‚in der Krise‘ und muss behandelt werden. Diese Metapher des body politic erscheint uns heute eher antiquiert (bzw. in der ausdrücklichen Benennung als ‚Volkskörper‘ sogar hochproblematisch), aber ihr zugrundeliegender ‚conceptual blend‘ – wir sind ein Körper – hat nichts von seiner Kraft verloren, eine Grenze zwischen dem Eigenen und dem ‚Fremden‘, ‚Äußerlichen‘ zu ziehen. Gleichzeitig erscheint durch die verborgene Metapher die Differenz als ‚natürlich‘ bzw. selbstverständlich und eben nicht als Konstrukt.

Phänomene als krisenhaft zu begreifen hat nicht nur metaphorische Implikationen, sondern ruft auch narrative Erklärungsmuster auf: Phänomene werden in Form einer bestimmten Erzählung konfiguriert bzw. modelliert (durch ‚emplotment‘ als z.B. tragisch oder komisch). Ansgar Nünning erklärt diesen Vorgang wie folgt:

[C]rises can be conceptualized as the results of narrative transformations by means of which an occurrence first of all becomes an event, then becomes a story and finally becomes a certain kind of story or a specific plot pattern, namely a crisis narrative. […] [L]abelling an event as a ‘crisis’ not only provides a specific definition of the respective situations, but also evokes certain narrative schemata, development patterns, and plots. On the one hand, these schemata interpret the events lying ahead in a specific way. On the other hand, describing a situation as a ‘crisis’ is also always a diagnosis from which certain therapeutic perspectives and action scenarios for future development can be derived. (Nünning 2009, 240, 243)

So verstanden entsteht die Krise aus (1) der Beurteilung gegenwärtiger Phänomene, die (2) bestimmte Handlungsprotokolle für die Zukunft bereitstellt, welche zudem (3) Ergebnisse von Erfahrungen aus der Vergangenheit sind. Meiner/Veel formulieren:

Both the immediate chaotic experience of the catastrophic event and the calm and composed retrospective comprehension thereof draw on our collective reservoir of cultural forms and patterns of understanding. It is in this way that one can talk about catastrophes and crises having a cultural life […]. (Meiner/Veel 2012, 1)

So wird deutlich, dass die Literatur- und Kulturwissenschaft viel zum Krisendiskurs beizutragen haben. Die Literatur ist nicht bloß ein Abbild des gesellschaftlichen Diskurses und des sozialen Imaginären, sie prägt diese auch. Literarische Formen (wie z.B. bestimmte ‚emplotments‘) bieten Muster zur Erklärung und Lösung von Problemen. Die Muster, die wir zur Erklärung und Lösung gesellschaftlicher Anliegen verwenden, müssen im Lichte dieser im engeren Sinn ‚literarischen‘ Muster betrachtet werden. So können wir dazu beitragen, irrtümlich angewendete Muster aufzudecken und andere, vielleicht bislang ignorierte Muster vorzuschlagen, die unsere Befindlichkeiten besser erklären und andere Lösungen bereitstellen.

Autor: Florian Kläger

Verweise:

Koselleck, Reinhart. „Krise,“ Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, hg. v. dems. und Rudolf Walther (Stuttgart: Klett-Cotta, 1997): 617–650.

Meiner, Carsten und Kristin Veel. „Introduction,“ The Cultural Life of Catastrophes and Crises, hg. v. dens. (Berlin, Boston: de Gruyter, 2012): 1–12.

Meyer, Carla, Katja Patzel-Mattern, und Gerrit J. Schenk. „Krisengeschichte(n): ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Eine Einführung.“ Krisengeschichte(n): ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, hg. v. dens. (Stuttgart: Steiner, 2013): 9—23.

Nünning, Ansgar. „Steps Towards a Metaphorology (and Narratology) of Crises: On the Functions of Metaphors as Figurative Knowledge and Mininarrations,“ REAL 25 (2009): 229–262.

DiasporasEinklappen

Das Wort „Diaspora“ gewinnt einen Schwung als eine „marktfähige Jahrtausend-Kulturwährung, die unsere wiederkehrende Heimatlosigkeit eher als eine Bereicherung statt als ein Defizit neu fasst“ (Ifekwunigwe 58). Im Gegensatz zu „Flüchtling“ oder „Asylant“ hat das Wort Diaspora weniger negative Konnotationen oder Assoziationen. Stattdessen wird es heutzutage mehr als Phänomen der Globalisierung gesehen. Zwar ist Diaspora historisch an die primären Verwendungen im Kontext der imperialen Expansionen der antiken Griechen, der Vertreibung von Juden und Jüdinnen sowie der Versklavung von Afrikaner*innen gebunden – doch im heutigen Gebrauch weist er auch darüber hinaus. Diaspora beschreibt heute das Ergebnis von Migration und verweist dabei auf das Ankommen und Formen von neuen transkulturellen Verbünden. In diesem Sinne ist Diaspora nicht mehr nur „ein Weg, um von hier nach dort zu gehen – sondern eher ein Weg, um gleichzeitig hier und dort sowie an allen Zwischenpunkten sein zu können“ (Carter x). Das wiederum bedeutet, dass Diaspora nicht bewegungslos ist, sondern vielmehr ein Übergang, der „die Möglichkeit der niemaligen Ankuft umfasst“ (Ibid). Als solche ist Diaspora transformativ, mehrdeutig und fluid statt auf der Suche nach 'Assimilation'. Ausgegrenzt aus dem Mainstream der Residenzgesellschaft bilden Diasporas scapes, in denen Zugehörigkeit und Erfahrungen von Ausgrenzung verschmelzen. Ja, Diasporas sind eine Platform des „Anderen“ inmitten der Etablierten und damit ein Weg, das Drama der Reise des 'Andersseins' inmitten von Welten, die nach Gleichheit und Homogenität streben, am Leben zu halten“ (Ibid). Diese Ambiguität und Heterogenität der Diaspora stellt diasporische Individuen und communities ebenso wie das Residenzland vor Herausforderungen, die eigene Identität, Zugehörigkeiten und Positionierungen ständig neu auszuhandeln. Dabei werden zugleich die konventionellen zentralen Marker von Nation, Raum, Religion, und Rasse inmitten diskursiver Strukturen und historischer und zeitlicher Narrative hinterfragt.

            Ganz im Sinne des „Paradoxes des Dazugehörens“, gehören Diasporas „ohne Zugehörigkeit dazu“ (Derrida 65). Ethnische, kulturelle und geschlechterspezifische Grenzen durchkreuzend (Cater xi) markieren Diasporas eine neue Ära, des sich Widersetzens gegen Grenzen – nicht nur der von Nationen, sondern auch jener, die verschiedene Diasporas voneinander abzugrenzen scheinen. Demnach können Diasporas als „eine neue soziale Form wahrgenommen“ werden, „die von neu ausgerichteten sozialen Beziehungen, politischen Orientierungen und ökonomischen Strategien geprägt sind“. Sie sind eine Art von Bewusstsein, „das die Erkenntnis von Multilokalität sowie eine neuartige Weise von kultureller Produktion demonstriert, die aus Globalisierung ebenso hervorgeht wie sie diese prägt (vgl. Koser 9). Die derzeitige Ära ist von einer Vision von Menschen in Bewegung geprägt und es ist diese, die kommende Zukünfte ausmacht.

Autorin: Mingqing Yuan, übersetzt von Dilan Zoe Smida (auch die Zitate)

Texts cited:

Carter, Donald. “Preface”. New African Diasporas, edited by Khalid Koser. London: Routledge, ix-xix.

Ifekwunigwe, Jayne. “Scattered Belongings: Reconfiguring the ‘African’ in the English-African Diasporas”. New African Diasporas, edited by Khalid Koser. London: Routledge, 56-70.

Koser, Khalid. “New African Diasporas: An Introduction”. New African Diasporas, edited by Khalid Koser. London: Routledge, 1-16.

ZukunftEinklappen

Nach einem Jahrzehnt der Forschung über „Zeit“ schlägt die Anthropologin Barbara Adam vor, Zukunft als Fakt, Fiktion, Glück und Schicksal zu lesen (Adam 2007). Diese Konnotationen haben sicher das Potenzial, dem alltäglichen Sprechen über Zukunft nahe zu kommen und beschreiben damit die Ebene von Zukunft als Kategorie der Praxis. Kategorien der Praxis sind, so Rogers Brubaker (2012), im täglichen Sprechen verankert und als solche politisch, religiös, soziokulturell diskursiv kodiert. Jedoch können diese diskursive Strukturen solcher Kategorien nicht aufgebrochen und dekonstruiert werden ohne den Bereich der Praxis zu verlassen und in die Metaebene zu gehen bzw., wie Brubaker es nennt, mit der analogen Analysekategorie zu arbeiten. Wie über Zukunft im täglichen Leben gesprochen wird, wird dabei ergänzt um die Frage, wie dieser alltägliche Sprachgebrauch aussagekräftig analysiert und verstanden werden kann.

            In dieser Lesart geht Zukunft über ihre praktische Domäne hinaus und überwindet es, Fakt, Glück und Schicksal zu sein. Damit ist auch gemeint, dass Zukunft mehr ist als das, „was geschehen wird“. Natürlich kann sie sich in einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Raum ereignen, jedoch nicht primär entlang der Pfade von Schicksal oder Glück (welches im Kern sehr viel mehr mit Privilegien und Macht zusammenhängt als mit Zufall). Zukunft entscheidet sich auch über agencies, also Handlungsmacht, und deren Verhandlungen mit dem, was sich ereignen kann und wird. Deshalb öffnet sich Zukunft als Raum, der sich ständig neu erschafft – und zwar als fortwährender Aushandlungsprozess sich widerstreitender, ergänzender oder sich ausschließender Interessen, Eventualitäten, Möglichkeiten und Optionen. Im Laufe globaler Geschichten haben sich manche Zukünfte wechselseitig gestärkt, geschwächt, und manche haben andere daran gehindert, zu existieren. Die eine bringt die andere voran oder behindert sie. Es gibt Zukünfte die nie geschehen konnten, oder nie geschehen werden, weil andere Zukünfte, entweder als Nebenwirkung oder intendiert, sie verhinderten. Zukunft ist ebenso das, was passieren wird, was passieren kann oder schon passiert ist wie das, was hätte passieren können oder passieren könnte. Somit existiert Zukunft niemals in der Einfachheit des Singulars, sondern reflexiv und relational in Verschränkung von Fakt und Fiktion sowie Vergangenheit und Gegenwart einschließlich ihrer verlorenen und beschwiegenen Zukünfte. Zukunft als Kritische Analysekategorie eröffnet damit eine neue Perspektive auf Zukunft als Zukünfte – ein Plural, der anerkennt, dass alle Zukünfte bedeutend sind.

            Die Reflexivität, Relationalität und Multiplizität von Zukünften sind kodiert durch Macht und deren Strukturen und Diskursen entlang von Strukturkategorien wie etwa Geschlecht, Sexualität, Rasse, Religion, Gesundheit, Alter und Nation. Die sich daraus ableitenden sozialen Positionen bestimmen in hohem Maße, wie selbstbestimmt individuelle oder kollektive Zukünfte gestaltet werden können. Damit ist jeder Kampf um Macht ein Kampf um Zukunft und jeder Kampf um Zukunft strebt nach Zugang zu Macht.

            Letztlich aber wird der Kampf um Zukunft nicht allein durch bestehende Machtverhältnisse allein definiert. So wie Macht durch agencies erhalten oder geschwächt wird, werden auch Zukünfte durch agencies bestimmt. Agencies begehren und fürchten, bekämpfen und erhalten, erfahren und vergessen, erbauen und zerstören Zukünfte – und zwar im Kontext von (Ohn)Macht, Privilegien und das Fehlen dieser, Ethik und Skrupellosigkeit, Verantwortung(slosigkeit). Ja, agency ist zugleich der einflussreichste Protagonist und heftigste Antagonist der Zukunft.

            Die agencies von Zukünften können sich divers manifestieren und Narration ist eine der einflussreichtsen Formen, um agency auszudrücken, auszuüben oder umzusetzen. Wir waren und sind was wir wie erzählen und was wir wie erzählen gestaltet Zukünfte.

            Was aktuelle Debatten über Migration in Deutschland anbelangt, so geht es auch hier um vergangene, gegenwärtige und künftige Zukünfte und deren Vergangenheiten und damit um die Frage, welche (deutschen und deren gloable) Zukünfte wann und durch wen verhindert oder bevorzugt, verschwiegen oder erzählt, gerecht oder ungerecht geteilt wurden. Der deutsche Kolonialismus und seine Genozide tragen Mitverantwortung an dem Tod von Millionen von Menschen in Afrika, Asien und den Amerikas und der Zerstörung von dortigen gesellschaftlichen Strukturen sowie den entsprechenden Zukünften. Gleichzeitig haben koloniale Aneignungen fremder Ressourcen, Güter und Arbeit die industrielle Revolution angekurbelt und eine Zukunft gebaut, die oft auf die vereinfachende Formel gebracht wird, dass der „entwickelte Westen“ dem „unterentwickelten und auf Hilfe angewiesenen globalen Süden“ überlegen sei.  Die Shoah wiederum riss Millionen von jüdischen Menschen und deren Zukünfte in den Tod. Viele der heutigen Konflikte und Kriege in der MENA-Region tragen auch diese Handschrift. Eine der vielen aus dem Nationalsozialismus gelernten Lektionen schließt die Verpflichtung ein, geflüchtete Menschen in Deutschland aufzunehmen. Dieses Erbe garantiert Überleben für Menschen, die vor Krieg, Genozid, und Verfolgung fliehen müssen, und sendet eine Willkommensbotschaft aus, die das Angebot einschließen muss, Privilegien, ökonomische Sicherheit sowie Hoffnungen auf gerechter verteilte Zukünfte zu teilen. Dafür aber bedarf es Visionen von Deutschland und Europa, die erzählen, dass Migration schon immer ein Teil von Europa gewesen ist und Migration ein Gewinn und keine Gefahr ist. Das schließt explizit auch ein, das Gewähren von Bleiberecht nicht einfach nur als Gabe, sondern als Verantwortungsübernahme für die globalen Folgen von Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie den globalen Kapitalismus zu verstehen, der westliche Lebensqualitäten auf Kosten von Millionen von People of Colour in Asien, Afrika und den Amerikas sichert. Diese neue Erzählung von Zukünften in Deutschland, Europa und darüber hinaus sind die Zukünfte, derer unseren verschrämkten Welten dringend bedürfen.

Autorin: Susan Arndt

Adam, Barbara & Chris Groves. Future Matters: Action, Knowledge, Ethics. Leiden: Brill, 2007.

Arndt, Susan, Deborah Nyangulu & Peggy Piesche. FutureS. Merits of a Critical Category of Analysis. Bielefeld: transcript, i.V.

Brubaker, Rogers. „Categories of Analysis and categories of practice: a note on the study of Muslims in European countries of immigration”, in: Ethnic and Racial Studies 2012: 1-8.

Ette, Ottmar. TransArea. Berlin: de Gruyter 2012

Gibson, William. „ The Science in Science Fiction", in : Talk of the Nation, NPR (30 November 1999).

Kultur Einklappen

Es gibt mehrere hundert verschiedene Kultur[1] -Definitionen. (Tendenziell) rassialisiert eingeführt wurde Kultur beispielsweise von Geert Hofstede und Samuel P. Huntington. Kritisch neu gedacht wurde und wird Kultur unter anderem von Annita Kalpaka und Paul Mecheril. Die Theoriebezüge und damit einhergehend auch die (Nicht-) Berücksichtigung poststrukturalistischer und insbesondere postkolonialer Perspektiven, mit Hilfe derer in unterschiedlichen Disziplinen über Kultur nachgedacht wird, variieren stark. Wird Kultur (wie etwa in dem deutschen Wort “Leitkultur” oder in aktuellen Integrationsdebatten) als statische, homogene Größe verstanden, geht damit der Mythos einher, dass die Angehörigen einer Kultur in ihrem Denken, Handeln und Fühlen durch diese determiniert sind – so als seien sie entscheidungs- und handlungsunfähige Marionetten an den Fäden ihrer Kultur. Kultur wird so essentialisiert und als “von Natur aus gegeben” hergestellt.  So konturiert dient Kultur als Sprachversteck für Rassismus und seine Konstruktionen von “Rasse”: Den Angehörigen des anderskulturellen Großkollektivs wird ein gruppendeterminiertes Verhalten unterstellt, während Angehörige der eigenen Gruppe als Individuen betrachtet werden. (s. Leiprecht 2004). Der zugrunde liegende Mechanismus funktioniert dabei analog zu dem des Rassismus: Gruppen werden aufgrund von Kriterien, die die ideologische Konstruktion bestärken, definiert. Auf dieser Basis wird ihnen eine Kultur zugeschrieben und die Kulturen werden darauf aufbauend hierarchisiert und gewertet (s. Rommelsbacher 2009). Damit einher geht die Reproduktion einer Wir-Nicht-Wir-Dichotomie“[2],  die die zentrale Unterscheidungspraxis des rassistischen Systems darstellt. Häufig wird dabei auf ein Unterscheidungsschema rekurriert, das auf kultureller Differenz basiert. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass es sich bei dieser hervorgebrachten Differenz nicht um eine selbstverständlich existente, sondern um eine (re-) produzierte konstruierte Differenz handelt, die in engem Zusammenhang mit gesellschaftlicher Herrschaft steht. Gelingt doch nur der sozialen Gruppe, die über Macht verfügt, eine Durchsetzung ihrer Konstruktion(en) der Anderen und damit einhergehend auch der eigenen versus “deren Kultur”. Von Edward Said wird dieses „Fremdmachen“ als „Othering“ bezeichnet. Betont wird hierbei, dass im Verlauf dieses Prozesses nicht nur Andere zu solchen gemacht werden, sondern damit stets (auch) die Konstruktion eines Wirs (als das vermeintlich überlegene Selbst) einhergeht. Während das Wir dabei unter anderem als (beruhigend) unambivalent konstruiert wird, stellt die Konstruktion der Anderen jeweils die binäre Opposition dar: Wir sind rational, die Anderen emotional, Wir sind zivilisiert, die Anderen ‚wild’ usw. (s. Said 1991). Im Kern dieser Konstruktion steckt der Binarismus, der Kultur der Natur als manichäsich überlegen darstellt. Einmal von Humanismus, Aufklärung und Moderne so aufgestellt, dient er als Hauptelixier aller Diskriminierungsnarrative: also etwa Mann versus Frau, hetereosexuell versus homosexuell, aber eben auch Westen versus der Rest, Weißsein versus People of Colour. So angelegt stellt die Hervorbringung einer westlichen Identität stets das Ergebnis eines Ausschlusses des Restes dar (s. Hall 1994). An die Dekonstruktion des statischen Kulturverständnisses schließt häufig ein hybrides Kulturmodell an, das Kultur nicht (mehr) als statisches, unveränderbar einheitliches Gebilde versteht, sondern die (potentielle) Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit von Kultur betont.
Jedoch wird auch in Kontexten, in denen ein hybrides Kulturverständnis vorherrschend ist, zwei Aspekten (zu) selten Beachtung geschenkt: Zum einen der Rolle, die Macht in diesem Zusammenhang spielt, zum anderen der Tatsache, dass auch hier Kultur als zentrales Unterscheidungskriterium herangezogen wird. Ein Nachdenken darüber, weshalb (immer noch) Kultur im Zentrum steht, findet dabei selten statt, obgleich ein solches dazu führen könnte, zu erkennen, dass ein Großteil der Aushandlungen, die (vorgeben) auf Kultur (zu) fokussieren, Aushandlungen von Exklusion und Inklusion darstellen. Damit einhergehend sind das Diskursangebot (bspw. Integrationsdebatten) ebenso wie fachwissenschaftliche Ausrichtungen (transkulturell, Diversity etc.) als zentraler Bestandteil dieser Problematik zu betrachten – wird doch auch hier nur selten über Prozesse der Kategorisierung nachgedacht. Notwendig ist deshalb ein analytisches Instrumentarium für die Werdungsprozesse der Kategorisierung auch im Rahmen von Wissensproduktionen im (und durch den) “Elfenbeinturm Wissenschaft”. Kritik sollte daher mit Michel Foucault als Bewegung verstanden werden, welche Wahrheit fortwährend auf Machteffekte hin befragt und Macht auf (eben diese) Wahrheitsdiskurse hin (s. Foucault 1992). Daran muss sich ein (kontinuierliches) Nachdenken über die (Un-) Möglichkeit einer Standpunktlosigkeit (auch) in der Wissenschaft anschließen und die Reklamation des Unpolitischen als Indiz für Wissenschaftlichkeit dekonstruiert werden, ist doch das Unpolitische das eigentlich Politische, weil es nicht markiert ist (s. u.a. Dirim et al. 2016).

Autorin: Nina Simon

Aysel Sultan danke ich für ihre Rückmeldungen und Korrekturvorschläge, die ich alle aufgenommen habe.


Literatur

Dirim, İnci et al. (2016): Nichts als Ideologie? Eine Replik auf die Abwertung rassismuskritischer  Arbeitseweisen. In: Mecheril, P. /Castro-Varela do Mar, M. (Hrsg.): Die Dämonisierung der       Anderen.         Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld, 85-96.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin.
Hall, Stuart (1992): The West and the rest: dicourse and power, in: Hall, Stuart / Gieben, Bram: Formations           of Modernity. An Introduction. Book 1, Cambridge, 275-331.
Leiprecht, Rudolf: Kultur -Was ist das eigentlich?. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitspapiere        IBHM No. 7, Oldenburg 2004, ISSN 1438-7794, online verfügbar unter: https://www.uni-    oldenburg.de/fileadmin/user_upload/paedagogik/personen/rudolf.leiprecht/Kulturtextveroeffentl..pdf   (letzter Zugriff am 08.02.2017).
Rommelsbacher, Birgit (2009): Was ist eigentlich Rassismus: http://www.birgit-       rommelspacher.de/pdfs/Was_ist_Rassismus.pdf (letzter Zugriff: 08.02.2017).
Said, Edward (1991): Orientalism: Western Concepts of the Orient (New edition). London.



[1]    Die kursive Schreibweise bestimmter Begriffe/Konzepte in diesem Text dient zweierlei: Zum einen der Hervorhebung des (jew.) Konstruktcharakters, zum anderen der Sichtbarmachung der mit der Benutzung dieser häufig einhergehenden Problematiken.

[2]    im hegemonialen Diskurs meist als Wir-Die-Anderen-Dichotomie (re-)produziert


Verantwortlich für die Redaktion: Univ.Prof.Dr. Susan Arndt

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