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Future Migration: Netzwerk für kulturelle Diversität

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Wenn wir uns mit den Ursachen, dem Wesen und möglichen Lösungen von ‚Krisen‘ wie z.B. der ‚Flüchtlingskrise‘ beschäftigen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass allein schon die Entscheidung, Situationen als Krisen begreifen, einen Akt der Sinnstiftung darstellt. In der Antike bezeichnete der Begriff κρίσις Entscheidungsprozesse vor Gericht und in der Politik, in der Medizin auch den Befund an sich und das Urteil des Arztes über die Entwicklung einer Krankheit, das zu einem bestimmten Zeitpunkt „zur Entscheidung treibt, ob der Kranke überlebt oder stirbt“ (Koselleck 1997, 619). Hierbei wurde unterschieden zwischen einer ‚perfekten‘ und einer ‚imperfekten Krise‘: Erstere führte zur vollständigen Genesung, bei letzterer bestand die Gefahr eines Rückfalls. Der ‚kritische‘ Punkt betraf dabei zwei Aspekte: einerseits den objektiven Gesundheitszustand des Patienten und andererseits die Entscheidung des Arztes für eine bestimmte Behandlung (ebd.). Wir verwenden den Begriff heute nicht viel anders: Wir nehmen bestimmte greifbare Probleme als krisenhaft wahr, aber diese Wahrnehmung wird begleitet von diskursiven Prozessen, die die Probleme überhaupt erst zur ‚Krise‘ machen und dabei bestimmte (Be-)Handlungsmuster zu ihrer Lösung aufrufen. In diesem Sinn wird der Begriff ‚Krise‘ als „Selbstdiagnose und Mittel der Selbstreflexion“ verwendet (Meyer et al. 2013, 12) und transportiert eine – rasch ausgeblendete – metaphorische Konnotation von der Gemeinschaft als Körper: Wie der Patient, so ist auch das Gemeinwesen ‚in der Krise‘ und muss behandelt werden. Diese Metapher des body politic erscheint uns heute eher antiquiert (bzw. in der ausdrücklichen Benennung als ‚Volkskörper‘ sogar hochproblematisch), aber ihr zugrundeliegender ‚conceptual blend‘ – wir sind ein Körper – hat nichts von seiner Kraft verloren, eine Grenze zwischen dem Eigenen und dem ‚Fremden‘, ‚Äußerlichen‘ zu ziehen. Gleichzeitig erscheint durch die verborgene Metapher die Differenz als ‚natürlich‘ bzw. selbstverständlich und eben nicht als Konstrukt.

Phänomene als krisenhaft zu begreifen hat nicht nur metaphorische Implikationen, sondern ruft auch narrative Erklärungsmuster auf: Phänomene werden in Form einer bestimmten Erzählung konfiguriert bzw. modelliert (durch ‚emplotment‘ als z.B. tragisch oder komisch). Ansgar Nünning erklärt diesen Vorgang wie folgt:

[C]rises can be conceptualized as the results of narrative transformations by means of which an occurrence first of all becomes an event, then becomes a story and finally becomes a certain kind of story or a specific plot pattern, namely a crisis narrative. […] [L]abelling an event as a ‘crisis’ not only provides a specific definition of the respective situations, but also evokes certain narrative schemata, development patterns, and plots. On the one hand, these schemata interpret the events lying ahead in a specific way. On the other hand, describing a situation as a ‘crisis’ is also always a diagnosis from which certain therapeutic perspectives and action scenarios for future development can be derived. (Nünning 2009, 240, 243)

So verstanden entsteht die Krise aus (1) der Beurteilung gegenwärtiger Phänomene, die (2) bestimmte Handlungsprotokolle für die Zukunft bereitstellt, welche zudem (3) Ergebnisse von Erfahrungen aus der Vergangenheit sind. Meiner/Veel formulieren:

Both the immediate chaotic experience of the catastrophic event and the calm and composed retrospective comprehension thereof draw on our collective reservoir of cultural forms and patterns of understanding. It is in this way that one can talk about catastrophes and crises having a cultural life […]. (Meiner/Veel 2012, 1)

So wird deutlich, dass die Literatur- und Kulturwissenschaft viel zum Krisendiskurs beizutragen haben. Die Literatur ist nicht bloß ein Abbild des gesellschaftlichen Diskurses und des sozialen Imaginären, sie prägt diese auch. Literarische Formen (wie z.B. bestimmte ‚emplotments‘) bieten Muster zur Erklärung und Lösung von Problemen. Die Muster, die wir zur Erklärung und Lösung gesellschaftlicher Anliegen verwenden, müssen im Lichte dieser im engeren Sinn ‚literarischen‘ Muster betrachtet werden. So können wir dazu beitragen, irrtümlich angewendete Muster aufzudecken und andere, vielleicht bislang ignorierte Muster vorzuschlagen, die unsere Befindlichkeiten besser erklären und andere Lösungen bereitstellen.

Autor: Florian Kläger

Verweise:

Koselleck, Reinhart. „Krise,“ Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, hg. v. dems. und Rudolf Walther (Stuttgart: Klett-Cotta, 1997): 617–650.

Meiner, Carsten und Kristin Veel. „Introduction,“ The Cultural Life of Catastrophes and Crises, hg. v. dens. (Berlin, Boston: de Gruyter, 2012): 1–12.

Meyer, Carla, Katja Patzel-Mattern, und Gerrit J. Schenk. „Krisengeschichte(n): ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Eine Einführung.“ Krisengeschichte(n): ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, hg. v. dens. (Stuttgart: Steiner, 2013): 9—23.

Nünning, Ansgar. „Steps Towards a Metaphorology (and Narratology) of Crises: On the Functions of Metaphors as Figurative Knowledge and Mininarrations,“ REAL 25 (2009): 229–262.

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